Die Poesie der unspektakulären Motive

Posthume Entdeckung: Das Nürnberger KUNSTHAUS zeigt Arbeiten der jung verstobenen Maler Stephan Deckert und Annette von Kienlin

»Es ist eine der ungewöhnlichsten Ausstellungen, die wir bisher gemacht haben«, befindet Hans-Peter Miksch vom Nürnberger KUNSTHAUS. Zudem ist es eine der besonders gelungenen. Posthum stellt sie die Maler Stephan Deckert (1962-1997) und Annette von Kienlin (1956-1999) vor, die mehr verbindet als der frühe Selbstmord.

Mit großer handwerklicher Perfektion suchten sich beide ihren individuellen Zugriff auf die gegenständliche Welt. Während Deckert in immer kleineren Formaten, manchmal auf wenigen Quadratzentimetern, ungewöhnliche Ausschnitte von Alltagsräumen heranzoomt - den Kaugummi in der Fußbodenecke oder das Glas mit Brausetabletten - konzentriert sich Annette von Kienlin gegen Ende ihres Lebens auf ein Motiv, das sie auf immer größeren Leinwänden variiert: die Rose.
Nie sehen wir ihren Stiel, die Blätter sind Beiwerk, auf dem das vitale Zentrum, der kraftstrotzende, sich in seiner Schönheit entfaltende Blütenball ruht - vergänglich wie das Leben und im Moment seiner größten Anmut dem Untergang am nächsten. Die Konturen verwischen, lösen sich hier und da zu abstrakten, rötlich schimmernden Feldern auf, aus denen kleine Farbrinnsale zum Blattgrün fließen.
Manchmal erscheinen die Blüten wie Körperfragmente, wie rosige Hautstellen. Diese Assoziation wird gestützt durch die Ähnlichkeit mit den weiblichen Akten, die gegenüber dem »Rosen-Saal« zu sehen sind. In diesem Raum thematisiert Kienlin die Vergänglichkeit noch drastischer: Schweinsköpfe liegen mit stierem Blick auf Tellern. Auch hier zerfasern die Konturen, die Zersetzung scheint begonnen zu haben, und ein klares Bild gewinnt man erst aus der Distanz.

Deckerts Kunstwelten dagegen muss man aus der Nähe betrachten, muss sich hineinziehen lassen in die Zimmer und Wiesen. Während Kienlin dem Werden und Vergehen mit expressiver, weicher Pinselführung nachspürt, nimmt sich Deckert des Momentan-Banalen mit Akribie und Detailliebe an und verleiht ihm dadurch dauerhafte Gültigkeit: der zerknüllten Streichholzschachtel, der Postkarte auf der Fensterbank, den Datumstempeln auf dem Regal. Doch selbst wenn man genau hinsieht, gerät das Betrachten manchmal zum Suchspiel, sobald man den Titel kennt. Die »Mausefalle« etwa liegt versteckt hinter einem Tischbein, die »Gänseblümchen« blühen kaum wahrnehmbar am Rand eines Rasenstückes. Der Zauber dieser Bilder liegt in ihrer eigentümlichen Stille, in der Poesie der unspektakulären Motive.

Die Künstler kannten sich nicht. Kienlin, gebürtige Stuttgarterin, studierte Kunst in München. Deckert, in München geboren, begann sein Studium in Nürnberg und ging 1985 nach Berlin. Durch Zufall stieß KUNSTHAUS-Macher Miksch auf die weithin unbekannten Werke. »Das Leben ist kurz, die Kunst ist lang« hat er die Präsentation frei nach Seneca betitelt und sich bei der lateinischen Version (Vita brevis, ars longa), die Einladungskarte und Plakat ziert, vertan. »longae«heißt es da statt »longa«, aber das tut dieser sehenswerten Ausstellung keinen Abbruch.

Von: BIRGIT RUF, Quelle: Nürnberger Nachrichten

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