Strahlendes Idyll, erbärmliche Kindheit - Bis zum 25. November im Kunsthaus
NÜRNBERG - So stellt sich der Deutsche eine Datscha vor: eine marode Kate aus Holz, Blech und Stroh, windschief, aber ungemein charmant. Drumherum wuchernde Wildnis, und im Vordergrund eine alte Babuschka wie Mütterchen Russland persönlich. Da machen wir Urlaub. Auf nach Tschernobyl!
So grotesk es klingt, aber Tschernobyl – genauer: die Stadt Pripjat gleich daneben – gilt inzwischen als Publikumsmagnet. Touristen tragen allerdings Gasmaske und Schutzanzug und dürfen nicht allzu lange verweilen. Denn Pripjat ist eine Geisterstadt, komplett ausgestorben. Der ideale Schauplatz für einen postapokalyptischen Film.
Der Fotograf Gerd Ludwig, der sich für seine Reportagen im „National Geographic“ einen Namen gemacht hat, hat sich dreimal in die Ukraine aufgemacht und in und um Tschernobyl fotografiert. Seine Bilder zeigen eine Wildnis, die den Ruinenromantiker jauchzen lässt: wucherndes Grün in Klassenzimmern, sowjetische Propagandabilder vom Menschen im Einklang mit der Natur, umrahmt von bröckelndem Verfall; die Ruinen eines Autoscooters und Riesenrads für ein Volksfest; leergefegte Häuser und Relikte nach der Evakuierung.
Doch ganz menschenleer ist die Gegend nicht. Zahlreiche ältere Menschen, die nichts mehr zu verlieren haben, kehren in die 30 Kilometer weite Schutzzone zurück, hausen in Katen, bauen Obst und Gemüse an, leben von Zuwendungen von außerhalb und immunisieren sich gegen die Strahlung mit Selbstgebranntem. Tatsächlich ist die Radioaktivität nicht gleichmäßig im Land verteilt, sondern entweder punktuell konzentriert oder schwach strahlend. So kann man tatsächlich ein Einsiedlerdasein fristen; für Biologen, Nuklearmediziner und Fotografen ein gefundenes Fressen über Generationen hinweg. Wer weiß, was noch alles kommt?
Doch „Der lange Schatten von Tschernobyl“ reicht noch weiter. Ludwig durfte als erster westlicher Fotograf in den Reaktor; er zeigt die verrottete Kommandozentrale, die etwas an „Raumpatrouille Orion“ erinnert, zeigt auch die Männer in Schutzanzügen bei der Stabilisierung des maroden Baus, wie auch den Bau des Sarkophages, der Tschernobyl deckeln soll.
Triumph der Technik? Weit gefehlt. In den hinteren Gelassen der Ausstellung widmet sich Gerd Ludwig den ärmsten Opfern: verstrahlten Arbeitern mit amputierten Gliedmaßen, kahlen Köpfen und hoffnungslosen Gesichtern, die seit Jahren auf ihre Prothesen warten; Kinder ohne Beine, ohne Haar, mit Deformationen und Schwachsinn geschlagen. Eines der aufregendsten Bilder zeigt eine Geburt. Ist das Baby auch gesund, ist alles dran und dort, wo es sein soll?
Weshalb zeigt der Komm-Bildungsbereich eine solche Ausstellung , nachdem doch der Atomausstieg in Deutschland beschlossene Sache ist? Die Antwort liegt auf der Hand: Was jetzt in Tschernobyl zu sehen ist, wiederholt sich in Fukushima. Auch dort werden Menschen zurückkehren, die den Strahlentod riskieren, wird es missgebildete Kinder und bittere Armut geben.
Bei uns schließt das letzte AKW erst in zehn Jahren. Das bedeutet zehn Jahre Risiko. Kocht Grafenrheinfeld über, verwandeln sich Würzburg und Schweinfurt in Geisterstädte. Welch eine Vorstellung: Das Tiepolo-Deckengemälde in der Würzburger Residenz, von Schimmel und Efeu umrankt, bewundert von Touristen in Schutzanzug und Gasmaske...
Reinhard Kalb, Nürnberger Zeitung