23. November bis 17. Dezember 2000
Die Utopien der Strategen der Urbanität im einundzwanzigsten Jahrhundert 1) eilen zur Zeit den Denkmustern der Künste weit voraus. Immerhin gehen diese Utopien von unseren Ist-Zuständen aus, das heißt Kritik an der Beschaffenheit dieser Zustände kann beobachtet und überprüft werden.
Am Aufregendsten ist dabei sicherlich die Auseinandersetzung mit herrschenden Raumvorstellungen, welche dem Wohlbefinden in kleinräumlichen, regionalen Zuständen dienen - die aber andererseits diese auch zementieren.
Nicht wenige Künstler, die in solchen Raumvorstellungen aufgewachsen sind, dienen ihnen mit ihren Gestaltungen zu. Utopische Vorstellungen - utopisch solange sie sich nicht ins Bewusstsein eingelebt haben - gehen vom Raum des Nomaden aus. Er ist im Gegensatz zum Raum des Sesshaften »glatt«. Der glatte Raum ist nicht an einen spezifischen Ort gebunden. Er wird zum Beispiel beschrieben mit den Sätzen: 2)
»Der Nomade verteilt sich in einem glatten Raum, er bewohnt und hält diesen Raum, ohne ihn zu zählen. Der Raum wird durch Ereignisse markiert, die entlang eines Weges sich mit diesem verschmelzen, auftauchen und wieder verschwinden. Er breitet sich in allen Richtungen aus. Statt Aufteilung Verteilung, in einem 'Raum ohne Grenzen und Einfriedungen', ohne Zentrum und Peripherie.« Der Raum des Sesshaften ist im Gegensatz dazu gekerbt und immer an einen fixen Ort gebunden. Das Gleichbleibende wird bevorzugt.
Eine Betrachtung der Arbeiten von Gisela Hoffmann stößt an alte Grenzen und macht Lust, diese aufzulösen. Daß die Künstlerin auch schon unter dem Titel »Transparenz« ausgestellt hat, löst Überlegungen aus, wie sie von den Strategen der Urbanität des einundzwanzigsten Jahrhunderts beschrieben werden. Gisela Hoffmann geboren auf der Insel Fehmarn, denkt über Zeit und den Zeitfluss nach, ist zu deren Darstellung jedoch auf die Raumzeit angewiesen. Sie begann als Künstlerin Konkreter Formen, wofür Titel wie »Drei Quader« oder »Zwei Stelen« sprechen. Allerdings waren diese Gebilde keine festen Körper, sondern Gewebe. Gewebe, besonders wenn sie nach dem Prinzip von Schuß und Kette gewebt sind, sind Gestaltungen des Übergangs von einem gewohnten Raum zu einem »glatten« Raum. Sie gehören einerseits der konventionellen Vorstellung von Raum an, sind aber auch bereits »metaspaces«, Zwischenräume. Vor allem erlaubt ihre Transparenz eine der festgefügten, starren Form entgegengesetzte Raumerfahrung. Die Künstlerin stattete sie auch als »Farbräume« aus, was die Intensität der Erfahrung erhöht.
Der Wechsel der verwendeten Stoffe ist für die Erfahrung neuer Räume wichtig. Gewebe von Gisela Hoffmann sind Gazen und so fein, daß sie den osmotischen Austausch von innen nach außen und umgekehrt schon für das Auge faßbar werden lassen. Wer an alten Raum-vorstellungen festhält, wird durch Gebilde in Gewebeform und Gewebeart durch deren Teilungscharakter an Konkretheit erinnert. Als »Austauschkörper« sind sie andererseits aber auch entropieverdächtig. Daß für die Künstlerin damit ältere Positionen der Konkreten Kunst aufzugeben waren, liegt auf der Hand.
Sie begibt sich bewußt, aber sicher auch instinktiv auf den Weg in ein neues Raumbewusstsein, oder anders gesagt: sie verläßt zusehends die gekerbten Räume. Sie orientiert sich in einem Raum, der sich in alle Richtungen ausbreitet, mit Hilfe von Geweben, wird sie - man sieht das »kommen« - noch andere Orientierungsmarken erfinden. Ihr Nachdenken über Zeit und Zeitfluß wird sich ebenfalls an solchen und irgendwelchen neuen Haltepunkten - an »Ereignissen, entlang eines Weges« - feststellen lassen. Es wird an der Zeit sein, daß sich heutige und zukünftige Beobachter darauf einrichten.
Gisela Hoffmann arbeitet in einer Weise, an Paradigmen des Wandels, die symptomatisch sind für ihre Generation, jedoch noch selten die Künstler zu einem richtigen Loslassen zu bewegen vermögen. Für Künstler wie für deren Betrachter geht es um die Einstellung zu Brüchen, zu Fluktuationen und zum Wechsel. Und darin geht ihnen Gisela Hoffmann ein gutes Stück voraus.
Text von Eugen Gomringer
1) »Strategischer Raum - Urbanität im einundzwanzigsten Jahrhundert« ist der abschliessende Band des gleichnamigen Colloquiums, das im September 1999 im Internationalen Forum für Gestaltung IFG in Ulm stattfand. (Der Verfasser des Einführungswortes im Katalog von Gisela Hoffmann ist Mitglied des Beirats des IFG Ulm) Fankfurt am Main 2000.
2) Diese Sätze sind dem Referat von Marc M. Angélil »der rhizomorphe Raum der Stadt« entnommen, der im erwähnten Band abgedruckt ist. Frankfurt am Main 2000.