Die Werbung suggeriert uns, dass Kino und Popcornkonsum zusammen gehören. Das klassische Kino lehrt uns, dass Spannung in der Verdichtung liegt. Bildlich formuliert sind das zwei breit ausgetretene Pfade, den das Kino und seine Rezipienten eingeschlagen haben. Das war nicht immer so und auch heute noch gibt es, um im Bild zu bleiben, Gabelungen und Abzweigungen, die in eine andere Richtung weisen, wie das Werk von Chantal Akerman. Jean-Luc Godard nannte die Regisseurin einmal eine „Widerstandskämpferin gegen das Kino der Gefälligkeiten“. Sie wiederum wollte, da war sie 15, selbst Filme machen, nachdem sie Godards PIERROT LE FOU (1965), den „ersten Film, der mehr als ein Jahrmarktsvergnügen war“, gesehen hatte.

Chantal Akerman wurde am 6. Juni 1950 im Schatten der Shoah als Kind polnisch-jüdischer Eltern in Brüssel geboren. Die deutschen Vernichtungslager überlebte nur ihre Mutter, nicht jedoch deren Eltern. Mit diesem Schicksal ihrer Familie setzte sich Chantal Akerman in ihren Werken auseinander und thematisierte immer wieder existentielle Fragen des Exils und der Heimat, der Freiheit und der Einsamkeit, der Erinnerung und der Identität. Ein Studium an der Brüsseler Filmhochschule brach sie im Alter von 17 Jahren ab „um Filme auf eigene Art zu drehen“ – der Akademismus, den man dort lehrte, war ihr fremd. Mit 18 realisierte sie ihren ersten Kurzfilm, praktisch ohne Geld, mit geborgten Geräten, weitere folgten auf 16-mm-Material – dem flexiblen Schmalfilmformat, auf das sie bis 1997 immer wieder zurückgriff. Auch die nächsten Filme waren ihrem Durchsetzungswillen geschuldet und dem Markt abgetrotzt. „Piraten-Filme“ bezeichnete sie sie, eine Piratin des Kinos nannte Chantal Akerman sich selbst.

Die belgische Filmregisseurin und Videokünstlerin war eine selbsterklärte Außenseiterin und Nomadin, ihrer Aufrichtigkeit und dem Erforschen von filmischem Neuland verpflichtet. Auch im französischen Film hatte sie keine Heimat gefunden. Paradise Films nannte sie ihre Produktionsfirma in Brüssel, mit der sie den Großteil ihres 45 Filme umfassenden Œuvres realisierte, das häufig zwischen Dokumentarfilm und Fiktion, zwischen Komik und Tragik oszilliert. Ob Musical, dokumentarische Studie, romantische Komödie, stummer Experimentalfilm, erzählerische Miniatur oder Literaturverfilmung, ihre Filme gleich welchen Genres, sind dabei Teil ein und desselben Universums mit wiederkehrenden stilistischen und thematischen Koordinaten inspiriert von Autobiographischem.

Befruchtet in den frühen 70er Jahren von einem langen Aufenthalt in New York und der Begegnung mit dem strukturellen Film und der Art, wie Michael Snow und Andy Warhol den illusionistischen Schein des Hollywoodkinos durch radikale Zeitdehnung brachen, eignete sie sich nach und nach alle Gattungen des Films an. Internationale Bekanntheit erlangte Chantal Akerman mit dem episch-experimentellen Film JEANNE DIELMAN (1975), der das Erzählen, das Verhältnis von Deskription und Narration neu bestimmt hat. In Cannes uraufgeführt, wurde ein neuer Blick im europäischen Kino wahrgenommen: einer vom Rande, sehr streng und sehr konzentriert – der Blick einer jungen Frau. Da war Chantal Akerman 24, ein Jahr jünger als Orson Welles bei der Inszenierung von CITIZEN KANE. Das kühne fast dreieinhalbstündige Porträt einer Hausfrau wurde auch zu einem ikonischen Werk des feministischen Kinos. Chantal Akerman machte nicht nur weibliche Positionen sichtbar, sie verstand Film überhaupt als radikales Medium, als Kunst im Dienst gesellschaftlicher Veränderung.

Nach JEANNE DIELMAN entstand 1976 mit NEWS FROM HOME ein Zeitbild aus New York, in dem Chantal Akerman aus dem Off Briefe ihrer Mutter rezitierte. Mit GESCHICHTEN AUS AMERIKA (1989), einem Geschichtenreigen aus der jüdischen Diaspora im New York der 20er Jahre und der romantischen Komödie um vertauschte Identitäten EINE COUCH IN NEW YORK (1996), kehrte sie in die Stadt zurück, in der sie zu Beginn ihrer Karriere gelebt hatte. Der weitere Weg, den Chantal Akerman als Film-Nomadin zurücklegte, führte sie über New York nach Paris, West- und Ostdeutschland, Polen, Russland bis nach Arizona, Shanghai und in ihrer eindringlichen Joseph-Conrad-Verfilmung LA FOLIE ALMAYER (2011), nach Kambodscha. Seit ihrem Debüt experimentierte sie mit dem filmischen Erzählen und unterlief dabei Konventionen und Sehgewohnheiten.

Die Installation „D’est: au bord de la fiction“ wurde 1995 der Auftakt einer zweiten Karriere als Schöpferin experimenteller Videoarbeiten, den „Betrachtern dabei immer neue Freiräume lassend.“ In zahlreichen Museen und Ausstellungen, darunter der documenta und der Biennale in Venedig, entstanden Installationen wie „From the Other Side“ (2002), „Une voix dans le désert“ (2003), „Neben seinen Schnürsenkeln in einem leeren Kühlschrank laufen“ (2007), „Nightfall in Shanghai“ (2007-09) oder zuletzt „Now“ (2015).

Mit unserer Hommage an Chantal Akerman, die am 5. Oktober 2015 aus dem Leben geschieden ist, würdigte das Filmhaus eine der bedeutendsten Vertreterinnen des europäischen Autorenkinos. Ihr persönlicher Pfad ist bedauerlicherweise zu einem Ende gekommen, der ihrer Filme wird weiter mäandern. Popcornfrei im Filmhaus ab 12. Februar 2016, beginnend mit ihrem letzten Film NO HOME MOVIE (2015), den wir als Nürnberger Erstaufführung präsentierten.
 

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