Absichtsvolle Elastizität. Queer Cinema und das Große Kino

Jan Künemund

Man könnte es sich sehr einfach machen, den Zusammenhang von Queer und Kino herzustellen, selbst wenn man unter Queerem Kino, wie wahrscheinlich die meisten Menschen, nur ein Kino versteht, das von Begehrensformen und Figurenkonstellationen aus dem LGBTQIA+-Spektrum erzählt. Eine einfache Antwort, die tatsächlich beiden Komponenten des Kompositums (Queer und Kino) gerecht werden würde, wäre nämlich: Film als Bewegtbildmedium empfiehlt sich a priori zur Inszenierung von nicht-fixierbaren Gegenständen, Kategorien, Körpern. Wer möchte in Anbetracht der Abfolge von Superheld*innen-Franchises, der Transformers und maskierten Charaktere, mit denen das Blockbuster-Kino seit jeher eine so große Lust an sich selbst entwickelt, tatsächlich von festen Identitäten sprechen, die sich gar auf Herkunft, Race, Klasse, Geschlecht, sexuelle Orientierung gründen würden? Im Kino stiftet die Montage den Zusammenhang, nicht die binären sozialen Ordnungen wie Frau/Mann, Innen/Außen, privat/öffentlich, homo/hetero, cis/trans. Es hält Techniken bereit, die scheinbare Gegensätze aufheben können und das Gezeigte dabei trotzdem kohärent und verständlich erscheinen lassen. Kino hat sozusagen das Zeug dazu, als queere Praxis gegen fixierte Bilder und Vorstellungen zu arbeiten.

Natürlich ist diese Antwort zu einfach. Ein Medium wie der Film sowie ein apparatives und soziales Setting wie das Kino existieren nicht im luftleeren und ideologisch unverbrauchten Raum. Sie sind Ausdruck ihres Entstehungszusammenhangs, haben Traditionen herausgebildet, schüren Erwartungen, haben nicht zuletzt die Aufgabe, finanzielle Investments möglichst verlässlich in Gewinne umzusetzen. Eine queere Film- oder Kinoerfahrung kann als Störung empfunden werden, als Enttäuschung, als Dekonstruktion. Auch für ein LGBTQIA+-Publikum. Es arbeitet gegen das scheinbar „Natürliche“, ein Gefühl von „Richtigkeit“, gegen geläufige Blickregime, macht unsichtbare Texturen des Sozialen sichtbar, die in filmische Darstellungen eingewebt sind.

Der absichtsvoll elastische Queer-Begriff wurde Anfang der 1990er-Jahre auch auf das Kino bezogen. „New Queer Cinema“ nannte die Publizistin und Filmkritikerin B. Ruby Rich eine Auswahl an Filmen, die ihr auf Festivals am Anfang des Jahrzehnts begegneten (Paris Is Burning von Jennie Livingston, 1990, Poison von Todd Haynes, 1991, Tongues Untied von Marlon T. Riggs, 1989, und andere). Sie empfand sie als Bruch zu den positiven, auf Identifikation angelegten Darstellungen von Lesben, Schwulen und trans* Personen, die vor der Aids-Krise als Korrektiv zu den diskriminierenden und stereotypen Bildern gesetzt waren, die das heteronormative Kino bis dato produziert hatte. Im „Neuen Queeren Kino“ funktionierte Identifikation nicht über lesbische oder schwule Identitätspolitiken, traten asoziale, verbrecherische, unbürgerliche Figuren auf, überschnitten sich Sexualität und Geschlecht auch mit anderen Differenzierungen wie „Race“ und Klasse. Was Rich damals ebenfalls auffiel, war der experimentelle ästhetische Ansatz vieler der Filme, die Genregrenzen überschritten und bekannte Formeln des Erzählens appropriierten und twisteten. Auch wenn das „New Queer Cinema“ ausschließlich auf Filme aus den USA, England und Kanada bezogen wurde, artikulierte sich in dieser neuen Diskursivierung ein allgemeiner Zusammenhang zwischen Heteronormativitätskritik und innovativer Form.

Wer vom „New Queer Cinema“ spricht, geht davon aus, dass es bereits etwas gegeben hat, das als „altes queeres Kino“ beschreibbar wäre. Tatsächlich lassen sich Filmszenen queer lesen, seit es Film gibt. In Thomas Edisons erstem Filmstudio Black Maria engtanzten bereits zwei Männer (Dickson Experimental Sound Film, 1884/85), in Georges Méliès‘ Glasstudio, das die binäre Ordnung von innen und außen aufhob, schob sich die lüsterne Sonne (mit dem Gesicht eines älteren Mannes) in eindeutig sexueller Absicht hinter den erwartungsvollen Mond (mit dem Gesicht eines jungen Mannes in L’Éclipse du soleil en pleine lune, 1907). Explizite Thematisierungen von Homosexualität (Anders als die andern von Richard Oswald, 1919) wechselten sich zu verschiedenen Zeiten und an unterschiedlichen Orten durch die dialektisch von Zensur und Öffnung geprägte Filmgeschichte ab mit verklausulierten Andeutungen oder einem bewusst gegen die Intention der Produzent*innen gewendeten „Queer Reading“ (das nochmal eine andere Facette des Queeren Kinos erzählt, nämlich die des beweglichen Blicks des Publikums, der sich flexibel identifizieren und voyeuristisch investieren kann). Identitätspolitische Agenden der stolzen Sichtbarkeit folgten und folgen auf gewonnene Kämpfe der Entkriminalisierung, queere Infragestellungen von Identitäten, die sich auf sexuelle Orientierungen gründen, vermessen dagegen visuell den opaken Raum geschützter Privatheit und fragen nach Ressourcen; wer kann es sich wann überhaupt erlauben, out & proud zu sein? Auch die Idee eines reibungslosen Aufgehens von LGBTQIA+-Erfahrungen in den Mainstreamerzählungen von Hollywood, Bollywood, Netflix und so weiter taucht die gesamte Filmgeschichte hindurch immer wieder auf: Passen die Formeln des Erzählkinos auch auf diejenigen, die früher davon ausgeschlossen wurden? Bedeutet der schwule James Bond oder die lesbische Tatort-Kommissarin gesellschaftliche Teilhabe? Was geht verloren, wenn sich queere Kritik an heteronormativen Bildpolitiken und Blickregimen in heteronormative Erzählmuster einschreibt?

Mit dem Queeren Kino hat man es weder mit einem identifizierbaren Werkkanon noch mit einer filmästhetisch-praktischen Methode zu tun. Man kann darüber denken und schreiben, was man will, es ist per se nicht fixierbar und durch keine allgemeingültige Definition erschöpfend zu beschreiben. Tatsächlich ist es aber interessant, von Erfahrungen des spezifischen Anders-gemacht-Werdens ausgehend nachzuschauen, wie sie sich in ästhetischen Programmen und Strategien des Filmischen niederschlagen. Ein paar Vorschläge:

Räume. Das „Coming-out“ ist eine Raummetapher, sie konstruiert das Heraustreten aus dem Versteck, aus dem schamvollen Raum des Privaten hinein in die öffentliche Sichtbarkeit, auf die Straße als politische Arena. Was heißt das für das filmische Arbeiten, bei dem zum Beispiel Filmstudios als heterotopische Safe Spaces für die Produktion unterschiedlichster Fantasien und Begehrensformen dienen können (das gilt auch für Andy Warhols aluminiumverkleidete Factory oder das Kinodach, auf dem Jack Smith Flaming Creatures gedreht hat)? Queere Filmräume (so eine mögliche These) könnten Räume sein, in denen das Innen und das Außen als binäre Ordnung in sich zusammenstürzen oder zumindest durchlässig werden: das dissidente Begehren in der Öffentlichkeit (Tangerine von Sean Baker, 2015), die Welthaltigkeit privater Schlafzimmer (Jaurès von Vincent Dieutre, 2012).

Zeit. „Chrononormativität“ nennt Elizabeth Freeman die an Heterosexualität und Zweigeschlechtlichkeit gebundene biografische Timeline, die Produktivität, Reproduktion, Langlebigkeit und Dauer als Werte absolut setzt. Wohin darin mit den queeren biografischen Brucherfahrungen, dem Zurückbleiben hinter den Erwartungen, der hedonistischen Feier des Moments, der sich nicht reproduzieren wird? (Der Moment in Porträt einer jungen Frau in Flammen von Céline Sciamma, 2019, zwischen den vorgeschriebenen Phasen Erziehung/Heirat).

Affekte. Sarah Ahmed hat über „queere Gefühle“ geschrieben, die Körper bewohnen, die daran scheitern, ein kulturelles Ideal zu reproduzieren. Queere Trauer (der nicht sozial Betrauerten, siehe Aids oder die muslimischen US-amerikanischen Opfer von 9/11), queeres Unbehagen (des ständig über sich und das Anderssein Nachdenken-Müssens), queere Lust (mit heteronormativ geformten Körpern etwas Neues ausprobieren). Musicals und Melodramen kommen hier in den Sinn, Genres des Überschusses, des Beharrens, des Aufgrellens klassischer Ästhetiken.

Narratologie. Das souveräne heteronormative Subjekt erzählt seine Geschichte (Identität) vom (Happy) End(e) aus, Narrationen an sich erzeugen Ideen von Geschlossenheit, Plausibilität, Kohärenz. Kann man von da aus die experimentellen Verspieltheiten des Queeren Kinos (von Anger über Sadie Benning bis hin zu Barbie) verstehen? Die offenen Brüche, die Emphase auf Texturen (nicht: Storys) und einzelne Momente (wie Marlene Dietrich eine Zigarette hält). Auch das Coming-out ist ein identitätsstiftendes Heteronarrativ.

Natürlich muss man differenzieren, queere Erfahrungen sind unterschiedlich, schlagen sich in unterschiedlichen Bildpolitiken nieder: Lesbisches Begehren muss vom männlichen, objektifizierenden Blick befreit werden; schwules Begehren entwirft sich zwischen Entmännlichung und Partizipation an männlichen Privilegien; trans* Subjektivität wird häufig mit einem starrenden Blick auf den nackten Körper (den „naked body shot“) konfrontiert und muss Settings entwerfen, in denen sich die Figuren aus diesem Blick herausdrehen können; Queers of Color haben es mit unterschiedlichen Sichtbarkeiten zu tun, die sie kontextabhängig zu Betroffenen von unterschiedlichen Diskriminierungen machen können; behinderte Queers haben weniger Zugänge zur Community und zur Souveränität des bildpolitischen Selbstentwurfs. All diese Differenzen gedanklich zuzulassen, ist kein identitätspolitisches Beharren, keine Sehnsucht danach, besonders und privilegiert zu sein. Vielmehr ist es ein Angebot zum Austausch über konkrete Erfahrungen in einer heteronormativen, sexistischen, rassistischen, ableistischen und klassistischen Welt. Diese Erfahrungen, mitsamt ihrer Sehnsucht, im gesellschaftlichen Ganzen aufzugehen (Minderheiten-Stress ist keine schicke Diskursfigur), bilden sich zwangsläufig in einem Kino ab, in dem sich historisch (Queere Filmfestivals) eine Community der Verschiedenen herausgebildet hat, die keineswegs exklusiv und sich selbst genug ist, sondern – wie gesagt – ein kritisches Angebot für Neugierige ist.

Eine der sinnvollsten Quasi-Definitionen von „Queer Cinema“ hat Nick Davis von Gilles Deleuzes und Félix Guattaris Überlegungen zu einer „littérature mineure“ übernommen: er schlägt vor, es als „kleines kino“ zu verstehen, das keinen Alternativentwurf zum Mainstream-Kino darstellt, sondern vielmehr dessen Intensivierung, Spannung, Aufgrellung, Verarmung. Darin bildet sich die Ambivalenz ab, auf die Gesetze und Formeln der konventionellen Filmsprache zurückgeworfen zu sein, damit/darin aber etwas radikal Anderes sichtbar machen zu müssen. Darin liegt einerseits die utopische Idee des audiovisuellen Selbstentwurfs nicht ganz begraben, andererseits macht diese Annäherung aber deutlich, dass das „Queere Kino“ immer einen Bezug zum Außen hat, zum „Großen Kino“ sozusagen. Man kann es nicht ausschneiden und an die Wände einer anderen Galaxie hängen.

 

zurück

 

Jan Künemund ist Filmkritiker, Kurator, Publizist, Dozent, Drehbuchautor und -lektor und lebt in Berlin. Momentan kuratiert er für das Festival DOK Leipzig, nimmt am Vermittlungsprojekt "Encounter RWF" am Deutschen Filminstitut & Filmmuseum Frankfurt teil, schreibt Kritiken für den Tagesspiegel und leitet die Presse- und Öffentlichkeitsarbeit im Schwulen Museum Berlin. Jüngste Veröffentlichungen: "Queer Cinema Now!" (herausgegeben zusammen mit Christian Weber und Björn Koll, Berlin 2022), "Back to the Future - German Queer Cinema since 2000" (zusammen mit Skadi Loist), in: "Atlas of Contemporary Queer Cinema" (herausgegeben von Andrea Inzerillo, Mailand 2023).